Christ My Song - 448
Tief zur Rechten und zur Linken - Calanda-Schau
(Meta Heusser-Schweizer/Johannes Thomas Rüegg)
Calanda-Schau.
1. Tief zur Rechten und zur Linken
gähnet mich der Abgrund an;
über scharfen Felsenzinken
endet meine schmale Bahn.
Weh dem Fuße, der hier gleitet!
Aus der Tiefe Schrecken droht
ihm, vom Fels und Strom bereitet,
grauenvoll ein herber Tod. PDF - Midi
2. Doch von oben fühl ich selig
mich von Himmelsluft umweht,
schaue aufwärts, bis allmählich
Graun und Schauer mir vergeht.
Über mir in trauter Nähe
blüht die heilge Alpenwelt,
die den Blick, je mehr ich spähe,
fester stets gefesselt hält.
3. Du Calanda! Gletscherlüfte
haben weiß dein Haupt geschmückt,
das auf wild zerrissne Klüfte
ruhig ernst hernieder blickt.
Greis mit heiterm Angesichte,
deinem Himmel nah vertraut,
schwelgend noch im Tageslichte,
wenn die Nacht uns längst umgraut!
4. Schöner Falknis! ward von warmen
Herzen dir dein Reiz verliehn?
Zeigst du mit den Felsenarmen
auf geliebte Hütten hin?
Sag es in der Heimat drüben,
sag es in des Rheines Tal,
dass die Fernen nah geblieben
unter Einer Liebe Strahl.
5. Nahe Alpen, grüne Weiden,
wo die Herden talwärts ziehn,
Wälder, die euch ernst bekleiden,
Bäche, die der Höh entfliehn.
Montelunas Blumengarten,
nicht von Menschenhand gepflanzt,
nachbarliche Felsenwarten,
von der Falter Heer umtanzt!
6. Von den lichten Höhen nieder
gleitet der erstarkte Blick
in Taminas Tiefen wieder,
bebet nun nicht mehr zurück,
grüßet froh die Skabiose,
die zu meinen Füßen nickt,
Thymian und Cistusrose,
in des Felsens Kleid gestickt.
7. Also wandeln wir durchs Leben,
Pilger auf der schmalen Bahn,
rings von Sünd und Nacht umgeben
gähnt uns das Verderben an.
Doch ein Blick zu jenen Bergen,
wo uns Hilfe niedertaut,
über Tränen, über Särgen,
macht mit der Gefahr vertraut.
8. Wer einst deine Näh empfunden,
heilge, unsichtbare Welt, –
wer die starke Hand gefunden,
die den ewgen Himmel hält,
und des armen Herzens Sorgen
trägt und alle Not der Zeit: –
o der wandelt still geborgen
mitten durch des Lebens Streit.
9. Und im Paradiesesfrieden,
der von oben sie umschwebt,
dankt die Seele, tief zufrieden,
wo sie weinend einst gebebt.
Ward der Blick im Heiligtume
Gottes erst geweiht und klar,
wird er auch die kleinste Blume
dieser ird'schen Flur gewahr.
10. Der du treu dein Kind geleitet,
deiner Schöpfung heilges Wort
meinem Lauschen oft gedeutet,
bleibe bei mir fort und fort!
Hilf mir freudig, nimmer schwankend
meine Felsenpfade gehn,
und für jedes Blümlein dankend
auf zu deiner Liebe sehn!
Meta Heusser-Schweizer, Gedichte, 1898, 35-38.